Der Wanderprediger Gustav Nagel (1874-1952) war eine eigenwillige Persönlichkeit. Er kleidete sich wie Jesus, propagierte eine naturnahes Leben, Vegetarismus und freie Liebe. In einem Seegrundstück am Arendsee errichtete er ab 1910 einen Naturgarten, der tausende Besucher anlockte. Immer wieder geriet er in Konflikt mit der Obrigkeit. Wolfgang Knape ist den Spuren seines ungewöhnlichen Lebens gefolgt.
Arendsee ist ein beschauliches Städtchen in der Altmark, mit hübschen alten Fachwerkhäusern, idyllisch gelegen am gleichnamigen See. Um 1900 entwickelte es sich zu einem beliebten Erholungsort für wohlhabende Großstädter. Hier wirkte der eigenwillige Wanderprediger Gustav Nagel, den manche noch aus ihrer Kindheit kennen.
Christine Meyer, Jahrgang 1942, begegnete dem Naturapostel das erste Mal als Sechsjährige in der Buchhandlung ihres Großvaters, wo er Schreibmaterial erwarb und Ansichtskarten mit seinem Konterfei verkaufte. Uwe Idler, Mitglied im „gustaf-nagel-Fördervein“, erinnert sich an einen Besuch auf Nagels Grundstück am Arendsee:
Das war beeindruckend, weil das ein Mann war mit einer großen Gestalt, langen Haaren, und ganz einfachem Gewand. Und was mir in Erinnerung geblieben ist: er hat eine ganz tolle Stimme, so eine väterliche Stimme gehabt.
Uwe Idler, gustaf-nagel-Fördervein
Wanderprediger und Lebensreformer
Gustav Nagel, 1874 in Werben geboren, kam 1888 nach Arendsee, um bei dem Kaufmann Ernst Albrecht eine Lehre zu absolvieren. Schon als Kind von schwacher Gesundheit, erkrankte er so schwer, dass er die Ausbildung abbrechen musste. Er litt u.a. unter Herzschmerzen, Hautausschlägen sowie einem chronischen Nasen- und Rachenkatarrh. Nagel befasste sich mit Naturheilkunde und entdeckte die Lehren des Pfarrers Kneipp. Er ernährte sich vegetarisch, ließ sein Haar wachsen, ging fortan barfuß – und wurde wieder völlig gesund.
Seine unkonventionelle Lebensweise – eine Zeit lang lebte er in einer Erdhöhle – und sein Aussehen waren für Nagels Vater nicht akzeptabel. Auch viele Einwohner nahmen daran Anstoß. Um 1900 wurde Gustav Nagel vom Königlichen Amtsgericht zu Arendsee entmündigt.
Doch das kümmerte den selbsternannten Propheten nicht. Als Wanderprediger zog er fortan durchs Land, hielt Vorträge über Religion, über Wasserbehandlung und Diät. In den Städten kamen die Zuhörer in Scharen. Der Verkauf seiner Schriften und Postkarten war zudem ein einträgliches Geschäft. Zu Fuß wanderte Nagel durch ganz Europa und reiste 1903 sogar bis nach Jerusalem. In Bethlehem, so behauptete er, habe sich Gott ihm offenbart.
Hinter mir stand in Nebel gehüllt ein alter, kaum noch sichtbarer König, und es hieß, der neue König müsste jung und frisch aus der Brandung wieder hervorgeholt werden, und ich war freudig bereit, hinein zu tauchen und kannte keine Furcht …
Gustav Nagel
Gustav Nagel gilt als Vorreiter der Barfußpoeten und Inflationsheiligen der 20er-Jahre. Mit seinen Ansichten verkörperte er jene Alternativbewegungen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne entwickelten. Die Lebensreform kritisierte die industrielle Massengesellschaft und forderte ein „Zurück-zur-Natur“. Ihre Anhänger propagierten Naturheilkunde, Vegetarismus und Freikörperkultur.
Auf seiner Reise durch Europa besuchte Nagel auf Capri den Maler Karl Wilhelm Diefenbach, der als Urvater der Reformbewegungen gilt und verbrachte einige Tage in der Vegetariersiedlung auf dem Monte Verita im schweizerischen Ascona. Nagel war außerdem Vertreter einer vereinfachten Orthografie, die dem Motto folgte „schreibe wi du sprichst“. Seinen Namen schrieb er „gustaf nagel“.
Garten Eden am Arendsee
Der Naturapostel kehrte 1903 in seine Heimatstadt zurück und konnte hier dank zahlreicher Gegengutachten seine Entmündigung aufheben lassen. Den damit verbundenen Makel wurde er nie los. 1910 erwarb er ein Seegrundstück und errichtete dort in mehrjähriger Arbeit seinen „Garten Eden“ – mit Harmoniumhaus, Schwanenhäuschen, einer Kurhalle und einem Seetempel. Nagel lebte hier mit seiner zweiten Frau Johanna und den drei Söhnen.
Sein Paradiesgarten entwickelte sich zum beliebten Ausflugsziel. Tausende Besucher kamen nach Arendsee, um sich die skurrile Tempelanlage anzuschauen und Nagels reformerische Vorträge zu hören. Der spleenige Sonderling wurde 1929 zum größten Steuerzahler der Stadt. Als Politiker hatte er weniger Glück. 1924 Jahre gründet er die „deutsch-kristliche folkspartei“, mit der er sich zweimal erfolglos an den Reichstagswahlen beteiligte.
Nach 1933 war der eigenwillige Querdenker zahleichen Repressionen ausgesetzt. Er erhielt Redeverbot, seine Anlage wurde zerstört und der Garten für Besucher teilweise völlig gesperrt. Nachdem er sich 1942 bei Reichspropagandaminister Goebbels persönlich über die Politik der Reichsregierung beschwert hatte, wurde Nagel verhaftet und kam im Sommer 1943 nach Dachau. Sechs Monate später wurde er in die Nervenheilanstalt Uchtspringe überführt.
Nach Kriegsende kehrte Gustav Nagel auf sein Grundstück zurück. Doch bald mischte sich der selbsternannte Friedensapostel wieder in die Politik ein. Im Juni 1948 schickte er den westlichen Stadtkommandanten von Berlin eine „Friedensbotschaft“ und lud zur Königskrönung am Arendsee. Hier wollte er den Herzog von Cumberland im März 1949 höchst selbst zum deutschen König krönen. Kurze Zeit später wurde er auf Veranlassung des Ministeriums für Staaatssicherheit erneut nach Uchtspringe gebracht. Dort starb er am 15. Februar 1952.
Über den Autor: Wolfgang Knape, am 18. September 1947 in Stolberg/Harz geboren, Studium des wissenschaftlichen Bibliothekswesen und am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, Mitarbeiter der Deutschen Bücherei. Freischaffender Schriftsteller und Featureautor. Zuletzt produzierte der MDR 2013 sein Feature: „Yenidze Dresden: Von Atika bis F6 – Geschichte einer Zigarettenfabrik“.
Quelle: https://www.mdr.de/kultur/radio/feature-arendsee-gustav-nagel-prophet-100.html